Erfahrungsbericht Februar 2025: „Jobshadowing“ am Narva Eesti Gümnaasium von Lilly Illert
Mein 1. Jobshadowing führte mich nach Narva in Estland, denn dort kenne ich einen estnischen Geschichtslehrer. Narva liegt an der Grenze zu Russland und ist das Zentrum der russischsprachigen Minderheit in Estland, d.h. die russische Sprache und Kultur sind in dieser Stadt und damit auch im Schulleben sehr präsent.
Ich freute mich auf das Wiedersehen und war gespannt den Schul- und Berufsalltag meines Bekannten hautnah mitzuerleben. Estland ist bei der PISA-Studie immer vorn dabei und ein Fortschrittsland hinsichtlich der Digitalisierung.
Was macht das estnische Schulsystem anders?
Das Gymnasium in Narva ist eine Staatsschule, d.h. sie wird nicht von der Stadt oder Gemeinde verwaltet und finanziert, sondern vom Staat Estland. Die Schule wurde vor 2 Jahren eröffnet und als Teil der estnischen Schulreform gebaut.
Ich habe den Unterricht zwei Tage am Gymnasium und einen Tag an der Grundschule begleitet. Hospitiert habe ich im Geschichts-, Mathe-, Englisch- und Deutschunterricht. Der Schultag beginnt meist 8:30 Uhr und kann durch obligatorische und fakultative Angebote und Aktionen mitunter bis 16 Uhr dauern. Der Schultag an sich ist sehr flexibel gestaltet. Es gibt kein Stundenklingeln und die Übergänge zwischen den Stunden sind recht fließend. So ist es keine Seltenheit, dass ein/e Schüler*in später kommt oder eher geht oder, dass tlw. auch entschieden wird eine Stunde nicht zu besuchen, weil eine andere Aufgabe gerade wichtiger ist. Besonders am Gymnasium bemerkt man, dass der Unterricht auf dem Prinzip des Selbstverantwortlichen Lernens basiert. Die Organisation des Lernens hat mich sehr an (mein) Studium erinnert, bei dem man ja auch recht frei entscheiden kann, was und wie man lernt. Auch in der Grundschule (Kl. 1-9) wird versucht den Schüler*innen dieses Prinzip in angepasster Form nahezubringen. Inhalt, der verpasst wurde, muss natürlich nachgeholt werden. Wer aber z.B. schneller mit einer Aufgabe/Ausarbeitung fertig ist, kann den Unterricht schon verlassen, um anderweitig weiterzuarbeiten. Der Inhalt wird meist in kleinen gebundenen Heften festgehalten für deren Führung die Schüler*innen selbst verantwortlich sind. Der Lehrer kontrolliert ggf. am Ende der Stunde die Aufzeichnungen. Wichtig ist, dass die Lernzielkontrolle am Ende die erforderliche Qualität aufweist. Es besteht jedoch auch immer die Möglichkeit nach einem Feedback eine verbesserte Variante erneut einzureichen. Wann sie ihre Kontrolle ablegen möchten, kann tlw. von den Schüler*innen entschieden werden. Die Bewertung der Lernzielkontrollen erfolgt nicht ausschließlich in Noten, sondern auch in Prozent. Wer Lücken aufweist, hat die Chance in Konsultationsstunden daran zu arbeiten. Im „schlimmsten“ Fall muss man 1-2 Wochen in den Sommerferien in die Schule kommen.
Die Methoden, die ich beobachten konnte, waren recht simpel und eher aus dem Frontalunterricht, dennoch erschienen die Schüler*innen sehr aktiv. Die Tafelbilder waren sehr überblickshaft. Der Einsatz digitaler Medien im Unterricht war unterschiedlich, aber eine kleine Präsentation wurde immer genutzt.
Auch wenn der Unterricht in vielen Fällen sehr fortschrittlich zu beobachten war, birgt der hohe Grad an Selbstverantwortung natürlich auch Potenzial für Unruhe und Unaufmerksamkeit. So war es nicht selten zu beobachten, dass Schüler*innen am Handy spielten, das Klassenzimmer für längere Zeit verließen oder mit ihren Klassenkamerad*innen quatschten, so dass ich mir von der Lehrkraft an der ein oder anderen Stelle ein direkteres Eingreifen vorgestellt hätte. Die Schulleiterin der Grundschule teilte mir im Gespräch mit, dass sich das Schulsystem sehr an Skandinavien orientierte, aber einige Umsetzungen nun auch wieder in Kritik geraten.
Besonders positiv bleibt mir dennoch die flexible und entspannte Lernatmosphäre in Erinnerung. Unterrichtsgespräche zwischen Lehrer*in-Schüler*in und Schüler*in-Schüler*in waren sehr zwanglos. (Es muss sich z.B. nicht gemeldet werden. Es gibt keine feste Sitzordnung.) Die Lehrkraft hatte während Arbeitsphasen genug Zeit, um einzelne Schüler*innen gezielt zu unterstützen.
Zudem konnte ich während meines Jobshadowing – mit dem Geschichtslehrer an der Seite -viele interessante Auszüge aus der Geschichte Narvas und Estlands kennenlernen.
Ein tolles Land, welches ich beruflich und privat gerne wieder besuche!